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Ralf-Michael Seele: Abenteuer Kunst


Ralf-Michael Seele im Gespräch mit Sabine Weise-Vogt.

Mit ausreichend neugieriger Geisteshaltung offenbart sich jegliches Gestalten und Betrachten von Kunst als ein Abenteuer, als eine lustvolle Erfahrung der Innen- und Außenwelt. Das Arrangieren einer Ausstellung wiederholt die Schaffensprinzipien eines Kunstwerkes und umgekehrt. Grundgesetze des Lebens spiegeln sich mehrfach in Analogien. Kunst ist für mich vor allem eine Sprache der Seele, neben dem Traum.

Natürlich gibt es einen fließenden Übergang zu den Bildwelten, welche vor allem dem Denken entspringen. Ich warne aber vor einer Überrationalisierung und Übertechnisierung des Kunstbetrachtens als Spiegelung der gegenwärtigen Diktatur des Verstandes und Technikwahns über der empfindsamen Seele. Inzwischen wurde durch Studien bewiesen, dass jede Art von zusätzlichem Reiz, wie z. B. intensive Gespräche, Audioguides, Touchscreens, laute Videobeschallung von nebenan, Besuchergedränge, das ästhetische Erleben mindert. Über die stille Schau, Meditation und Einfühlung öffnet sich der Betrachter seiner Seele, seinem Denken und seinem Körper. Alle Ebenen werden mehr oder weniger berührt. Dies bei sich zu beobachten, kann ein Weg der Selbsterforschung sein. Die Alternative besteht darin, das jeweilige Kunstwerk als Offenbarung der Seele des Künstlers oder des jeweiligen Zeit-Geistes, der jeweiligen Epoche oder Kultur zu deuten. Hierbei bedarf es des Abgleiches der eigenen Deutungen mit den Motiven des Künstlers und mit den historischen Vorgängen.

Kunst vollzieht sich primär als Bewusstseinsprozess, von dem Spiel mit Materialien und Technologien einmal abgesehen. Die individuelle abweichende Wahrnehmung des gleichen Werkes von mehreren Menschen beweist mir, dass jeder nur dass erkennt und deutet, was in ihm ist. So kann allein über die Kunstbetrachtung das erkenntnistheoretische Modell des Konstruktivismus in seinem Funktionieren geprüft werden.

Bei aller Wertschätzung der Dinglichkeit, Originalität und Qualität eines Kunstwerkes geht es mir doch letztlich immer um Menschen:

„Hinter jedem Kunstwerk steht ein Mensch – der Künstler, vor jedem Kunstwerk steht ein Mensch – der Betrachter. Und vermittelt wird ein Kunstwerk auch über einen Menschen – der Galerist.“

Fünf Schlüsselerlebnisse im Da-Seins-Zyklus einer Ausstellung offenbaren sich mir mit jeweils eigenen Erlebensweisen: Das Initialerlebnis kann eine Katalogabbildung, der Besuch einer Ausstellung oder eines Ateliers mit der persönlichen Begegnung des Künstlers sein. Dann folgt meine intensive Arbeit mit den Werken – das Erschauen, Hineinspüren und Analysieren – und das Begleiten des Künstlers bei seiner Arbeit über einen längeren Zeitraum. Meine Wahrnehmungen, Gedanken und Recherchen fließen am Ende in mehrere unterschiedlich literarisch aufgebaute Katalogtexte ein, ergänzt von eigenen fotografischen Beobachtungen sowie Gedichten als eine rein literarische Annäherung an das Werk des Künstlers.
Mein Körper darf zusätzlich mitspielen, wenn ich schließlich die Ausstellung aufbaue, stundenlang Kunstwerke hin und her trage, zueinander und im Raum positioniere, den Galerieraum als Ganzes gestalte, mich in ihm in Beziehung zu den Exponaten achtsam bewege. In den Führungen spiele ich den Brückenbauer, den Stellvertreter des Künstlers, lausche den Interpretationen und Projektionen der Besucher und biete ihnen als verbale Handreichungen  „Steigeisen für das eigene freie Klettern in den wilden Felsen der Kunst.“
Nach Wochen und Monaten intensiven Einlassens mit der Exposition als Ganzes und auf meine ausgewählten Lieblingswerke kommt der Augenblick des Verabschiedens, des Loslassens, wenn ich das ganze Gebilde wieder abbaue, oft mit großem Wehmut. Jede Ausstellung ist immer einmalig. Selbst die gleichen Werke in einem anderen Raum präsentiert, ergeben ein Anderes. So erinnert mich der Lebens-Zyklus einer Ausstellung an ein tibetisches Sand-Mandala: In stunden- oder tagelanger konzentrativer und meditativer Arbeit gestalten die Mönche ein filigranes, komplexes Bild, lassen es eine Weile wirken und zerstören es rituell. So ist auch meine Arbeit als Ausstellungsmacher ein großes komplexes Ritual mit einigen kleinen. Viele Grundgesetze des Lebens werden mir dabei bewusst, auf die ich die Besucher hinweise, z. B. sinnbildhaft das Gebären, Wachsen und Sterben.
So erscheint mir eine Ausstellung wie ein lebendiges Wesen, das ähnlich einem Bild ab einem bestimmten Zeitpunkt ein Eigenleben zu führen beginnt. Beim Arrangieren der Exponate sind nicht ich oder der Künstler maßgebend, sondern primär die Werke selbst. Sie zeigen mir, wer mit wem wo am besten nebeneinander und miteinander den Raum füllen möchte. Ich muss nur genau hinsehen und in sie hineinspüren. Allein dieser Vorgang hütet trotz aller Analysebemühungen sein letztes Geheimnis.
Ralf-Michael Seele
Kunstwissenschaftler, Galerist, Publizist, Ausstellungsmacher, Kunstvermittler, Text- und Bild-Journalist, Verleger, Kunstphilosoph, Kunstkritiker