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Kreativität – Urkraft des Menschen


Ralf-Michael Seele im Gespräch mit Sabine Weise-Vogt.

Kunst deute ich neben dem Traum als eine weitere Sprache der Seele. Wenn ich aus meinen Beobachtungen schlussfolgere, dass die Seele in meinem Modell des dreigliedrigen Wesens Mensch naturgemäß über Körper und Verstand regiert, dann erscheint mir die gegenwärtige zivilisatorische Diktatur des Verstandes (Bürokratie, Rationalismus, Pseudo-Wissenschaftswahn) und des Körpers (Materialismus, Körperkult, Technikwahn) als widernatürlich.
Die letztlichen Ursachen der meisten gesellschaftlichen Probleme diagnostiziere ich im beständigen Abspalten als kollektives, stark verinnerlichtes und unbewusstes Verhaltensmuster sowie in der daraus folgenden Unterdrückung, Verdrängung, Ignoranz, Abwehr aller Seinsweisen (Gefühl, Intuition, Sensibilität usw.) als seelische Funktionen. Sogar der Begriff „Seele“ ist aus dem öffentlichen Sprachgebrauch fast verschwunden.
Vergab man einst Namen im Bewusstsein von Bedeutung, Symbolik, Berufung, Sprach-Bildern, so werden Vornamen heute primär nach dem Wohl-Klang oder nach Star-Vorbildern gewählt. In den letzten Jahren verlangen Institutionen zuerst eine Nummer als eine immer länger werdende Zahlenfolge zur Identifizierung. Wurden nicht einst Häftlingen der Name durch eine Nummer ersetzt, um ihre Seele zu brechen? Der effiziente digitale Maschinencode verdrängt massiv analoge, bildhafte Seelen-Prozesse.
Kein Wunder, dass dann intensives konzentriertes Betrachten von stehenden Bildern immer mehr Menschen überfordert.
Das Gegenteil vieler offizieller Grundannahmen halte ich für logischer und praktikabler, z. B.:
Warum wollen immer mehr Menschen Künstler werden? Folgen sie einer ausbalancierenden Sehnsucht? Die künstlerische Da-Seins-Weise erscheint mir die dem menschlichen Wesen als ihm gemäßeste, weil eben ganzheitlich und seelengesteuert. Viele Berufe und Jobs neigen zu extremen Vereinseitigungen und Abspaltungen, mit negativen Folgen für die Gesundheit und darüber für die Gemeinschaft als Ganzes. Kunst spiegelt anschaulich die gesellschaftlichen Verhältnisse. Doch die Künstler müssen aufpassen, dass sie von den dominanten Normen nicht eingeholt, instrumentalisiert, versklavt werden – mehr oder weniger unbewusst oder bewusst.
Die Kunst steht am Anfang der Menschheit (Höhlenmalerei) und am Beginn individuellen Lebens. Jedes gesunde Kind malt und zeichnet spontan, wenn es die Möglichkeiten dazu erhält. Auch am Lebensende sind Menschen am längsten mit allen Formen künstlerischer Therapien wie Malen, Plastizieren, Singen, Tanzen usw. erreichbar und beglückbar. Das gilt vor allem für demenziell Betroffene.
Der mit Alzheimer und Demenz bezeichnete seuchenartig sich ausbreitende Symptomkomplex erscheint mir als eine natürliche Reaktion des menschlichen Bewusstseins auf die lebenslang kränkenden Folgen des vernunftbeherrschten Weltbildes. Scheinbar schicksalhaft werden Fühlen und biologisches Verhalten von diese überdeckenden und domestizierenden rational-kulturell-abspaltenden Mustern befreit.
Wenn wir diesen Symptomkomplex als Chance annehmen und hinterfragen, können wir besser damit umgehen, Betroffenen helfen, sie heilen und vor allem vorbeugend wieder zur Balance zwischen Denken und Fühlen zurückkehren, und damit auch zu einer weit größeren Würdigung, Förderung und Nutzung der Künste als heute.
Das herrschende Weltbild gebiert eine Hochleistungs-Kunst und Hochleistungs-Kunst-Pädagogik, für die die wertschätzende und (vor-)urteilsfreie Betrachtungsweise der Kunst-Therapie ein heilsamer Ausgleich darstellt. Alle Methoden haben zur rechten Zeit am rechten Ort Sinn und Funktion und entlocken jedem Kunstwerk entsprechende Informationen. Oft verraten mir Ausstellungsbesucher, dass ihnen in jungen Jahren die angeborene Lust am Malen, Zeichnen und Singen für immer verdorben wurde, nur weil sie sich den Erwartungen der Erwachsenen gegenüber ungemäß ausdrückten.
Sie wurden nicht altersgerecht angenommen, sondern durch den allmächtigen Perfektions- und Hochleistungs-Wahn überfordert, domestiziert, seelisch misshandelt. Das muss anders werden. Im Sinne der kollektiven Balance konzentriere ich mich derzeit auf die dem Wesen der Seele entsprechenden Methoden der Kunst-Therapie, u. a. in dem von mir verlegten und herausgegebenen bibliophilen Gesamtkunstwerk „Reif werden für die Welt“.

Dieses aufwendig gestaltete Buch – zugleich Dokumentation einer Ausstellungsfolge – zeigt, wie Heranwachsende von der Geburt bis zum 21. Lebensjahr ihre körperlichen und seelischen Entwicklungen über eine spontane unverfälschte Bildsprache in den ersten drei Lebens-Jahr-Siebten unbewusst ausdrücken und damit offenbaren.
Die altersmäßigen Veränderungen der Bildsprache werden anhand von typischen Mustern und beispielhaften Bildern deutlich sichtbar. Eltern, Großeltern, Lehrer und Erzieher erfahren, wie sie die Bilder ihrer Schützlinge deuten und wertschätzen können. In das Buch flossen Erfahrungen einer Kunstpädagogin, einer Kunsttherapeutin und eines Kunstwissenschaftlers ein.
Deren Offenheit für die Fachgebiete der jeweils Anderen überwand beispielhaft Bewusstseins-Grenzen. Jeder lernte von jedem. So konnte sich eine gemeinsame schöpferische Geisteshaltung für drei Kunstausstellungen und für dieses Buch entfalten. Neben Analogien zur Kunstgeschichte findet der Leser Methoden einer alters- bzw. entwicklungsbezogenen Bildbetrachtung als Grundlage meiner ganzheitlichen Kunsttheorie.